Allgemeines

SocialMediaHistory: Geschichtsbezogene Hate Speech auf Social Media

Projektgrafik von SocialMediaHistory, Menschenhand am Handy mit Hashtag History auf hellblauem Hintergrund
Projektgrafik SocialMediaHistory  |  © Projekt SocialMediaHistory

Geschichte wird häufig als gesellschaftliches Nischenthema wahrgenommen. Doch mit den sozialen Medien ist Geschichte ein regelmäßiger Teil der Diskussionskultur mit Bedeutung für die Gegenwart geworden – eng verbunden mit politischen Weltanschauungen und Hate Speech.

Im November 2020 verglich sich Jana aus Kassel während einer Querdenken-Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen mit Sophie Scholl. Daraus wurde auf sämtlichen Social-Media-Plattformen ein trending topic. Während die einen mit Unverständnis und Spott reagierten, solidarisierten sich andere mit der Sprecherin und ihrem Vergleich mit der Verfolgung und Hinrichtung von Gegner*innen der Nationalsozialisten. Diese Gleichstellung blieb auch in den folgenden zwei Jahren ein fester Bestandteil der Anti-Corona-Bewegung.

Dies ist nur ein Beispiel dafür, welche Rolle historische Analogien heute in der politischen Kommunikation spielen. Putin, Trump und Orban nutzen Verweise auf die Vergangenheit, auf angebliche Vorfahren und historische Anrechte auf bestimmte Gebiete als Rechtfertigung für Konflikte, Kriege und Ausgrenzung. Ebenso wie vor allem rechte, aber auch linke Gruppen der Gesellschaft verbreiten sie (bewusst) historische Fehldeutungen über die sozialen Medien, um ihre Weltanschauung breitentauglich und anschlussfähig zu machen. Das Fatale daran: Diese pseudohistorischen Verweise ziehen Konsequenzen in Form von Hass, Gewalt und politischen Entscheidungen nach sich. Das Thema ist also größer als man denken würde, denn: Jede Art von Weltanschauung basiert auch auf Geschichtsbildern. Geschichte ist elementar für die Identitätskonstruktion, dafür, wie man sich als Person in der Welt verortet, in welcher Gruppe man sich und wie man sich anderen Gruppen gegenüber positioniert, weil man ihnen bestimmte Eigenschaften zuschreibt aufgrund des eigenen historischen Weltbildes.

Hand hält ein Handy und scrollt
scrolling hand  |  © unsplash I Yazid N

Ein schwieriges Forschungsfeld

Im Forschungsprojekt SocialMediaHistory beschäftigen wir uns deshalb unter anderem mit vergangenheitsbezogener Hate Speech, ihren Ausmaßen und Folgen. Dabei verstehen wir das Phänomen als Kommunikationsakt, der die Erniedrigung von Menschen aufgrund einer antizipierten Zugehörigkeit zu einer Gruppe zum Ziel hat und mithilfe von Referenzen auf vergangene Personen und Ereignisse konstruiert wird, womit auch kontrafaktische Geschichtserzählungen, Geschichtsverdrehungen und -instrumentalisierungen gemeint sind. Hate Speech kann in sozialen Medien stattfinden, muss es aber nicht.

Die Erforschung dieses Themas ist komplex: Zum einen handelt es sich um ein großes Feld, das mitunter schwierig von Phänomenen wie Antisemitismus oder Holocaustleugnung abzugrenzen ist. Zum zweiten verschwimmen häufig die Grenzen zwischen direkter Hassrede in Form von Beleidigungen und Drohungen und indirekten, auf Geschichte bezogenen, diskriminierenden Äußerungen. Diese beiden Punkte werden noch komplexer, wenn man bedenkt, dass Hate Speech nicht immer eindeutig ist, also von verschiedenen Personen jeweils anders eingeschätzt und wahrgenommen wird. Zum dritten ist die Erhebungssituation problematisch, weil bisher keine technischen, rechtlichen und methodischen Zugänge existieren, die es ermöglichen, das Ausmaß und die Inhalte von vergangenheitsbezogener Hate Speech in den sozialen Medien vollumfänglich zu erfassen. Und schließlich ist bereits jede Form der Gruppenzugehörigkeit konstruiert, gerade wenn es um Gruppen der Vergangenheit geht.



Geschichtskonstruktion, um auszuschließen



Diese Komplexität erschwert auch den praktischen Umgang mit vergangenheitsbezogener Hassrede. Diese arbeitet häufig mit Codes, Symbolen und Anspielungen, die für Menschen ohne historische Vorbildung nicht eindeutig zu erkennen sind. Oder wissen Sie, was problematisch daran ist, sich auf die Germanen als Vorfahren der heutigen Deutschen zu beziehen? An der Aussage, zur Zeit Anne Franks habe es eine bestimmte Art Kugelschreiber noch nicht gegeben? Dass die Deutschen kaum am Kolonialismus beteiligt waren? Dass das deutsche Kaiserreich viel Gutes bewirkt hätte? An Verweisen auf die Rolle der Frau als Sammlerin in der Vorgeschichte? Oder an der Thematisierung der Völkerwanderung? All diese Referenzen auf Geschichte sind so konstruiert, dass sie den Ausschluss bestimmter Gruppen von Menschen aus der Gesellschaft rechtfertigen und damit die eigene Gruppe verherrlichen.



Deshalb sind beispielsweise Nation-building-Bestrebungen* besonders empfänglich für solche historischen Referenzen, wie an den Geschichtsbildern der Staaten Osteuropas und des Balkans zu sehen ist, aber auch in stabil wirkenden Demokratien wie Großbritannien, den USA oder Deutschland – man denke nur an das bereits genannte Beispiel der Germanen als Vorfahren der heutigen Deutschen. In solchen Argumentationen soll die Vergangenheit dazu dienen, die heutige Herrschaft über bestimmte Regionen zu legitimieren – zu sehen aktuell etwa am Beispiel Russland und der Ukraine. Zugleich werden Personen ausgeschlossen, die angeblich nicht schon immer an einem bestimmten Ort gelebt haben, es wird also Gruppen das Anrecht darauf verwehrt, sich niederzulassen und dazuzugehören. Dass entsprechendes pseudohistorische Wissen entweder veraltet oder verfälscht ist, erschließt sich aber nicht unbedingt. Es ist also auch deshalb gefährlich, weil es schwer zu dekodieren ist.



Plattformdynamiken als Verstärker 

Das ist umso mehr ein Problem in den sozialen Medien, weil Menschen hier (pseudo-)historische Inhalte oder Hashtags teilen oder diese von den Algorithmen vorgeschlagen bekommen. Die Dynamiken der Plattformen verstärken aufgrund ihrer technischen, medialen und ökonomisch orientierten Spezifika solche Entwicklungen, etwa indem sie (negativ) emotionale Beiträge höher ranken. Damit erreicht vergangenheitsbezogene Hate Speech eine große Öffentlichkeit und prägt die Wahrnehmung der Menschen in Bezug auf die Gegenwart.



Nicht ohne Grund nutzen vor allem rechte Gruppen humoristische Memes für ihre digitale Kommunikation. Diese verbreiten sich häufig viral, werden kaum hinterfragt und sind damit ein Beispiel dafür, wie auf den Plattformen beliebte Handlungen genutzt werden, um diskriminierende und/oder diskurszersetzende Inhalte breitenwirksam zu verbreiten. Und so wiederholen viele Menschen pseudohistorische Aussagen, ohne zu verstehen, was dahinter steht. 

Eine weitere Herausforderung liegt darin, dass sich die Themen und Codes sehr schnell verändern. Vergangenheitsbezogene Hate Speech bezieht sich meist auf aktuelle Ereignisse und passt sich an diese an. So waren ab 2015 mit der sog. Geflüchtetenkrise historische diskriminierende Inhalte mit Bezug zu Migration sehr präsent. 

Seit 2020 haben mit den gesellschaftlichen Debatten zu Gleichstellung, der LGTBQ+- und der Black-Lives-Matter-Bewegung pseudohistorische Inhalte zu Geschlechtergeschichte oder Kolonialismus stark zugenommen. Zwar beschäftigen sich Faktenchecks und Journalist*innen mit Aussagen zur Gegenwart, doch werden verfälschte Geschichtsbezüge kaum behandelt, bleiben somit unhinterfragt stehen und werden zu einer Falltür für historisch Interessierte in ein entsprechendes politisches Spektrum. 

Das von Das NETTZ und der Bundeszentrale für politische Bildung geförderte Projekt GeschichtsCheck wollte deshalb eine Anlaufstelle mit Hintergrundinformationen zu vergangenheitsbezogener Hate Speech etablieren, die zwar gut angenommen wurde, aber aufgrund ihres befristeten Projektcharakters nicht mehr aktualisiert werden kann.

Hände, welche die Tastatur eines Laptops bedienen
Hände auf Laptoptastatur  |  © unsplash I Thomas Lefebvre

Umgang: Status Quo und Ausblick

Hinsichtlich der Kontrolle durch die sozialen Plattformen ergibt sich daraus das Problem, dass die Überprüfungsalgorithmen und -mitarbeitenden für die Erkennung vergangenheitsbezogener Hate Speech immer wieder neu sensibilisiert werden müssten – und zwar in Bezug auf Texte ebenso wie auf Bilder und Videos. 

Das müsste zudem immer neu an die aktuelle politische Lage und spezifisch für jeden nationalen Kontext angepasst werden. Da die auf diese Weise geäußerte Diskriminierung außerdem oft subtil ist, fallen etwa ironische Inhalte und Kommentare nicht unter die Communityregelungen oder werden von den Algorithmen nicht erkannt.



Hinzu kommt, dass Hate Speech mit Bezug zur Geschichte kaum Aufsicht unterliegt, wenn sie in geschlossenen Gruppen, Messengern oder privaten Accounts und Stories geäußert wird. Solche nicht-öffentlichen Inhalte machen zudem deutlich, warum die Forschung immer nur einen Ausschnitt dessen kennen kann, was auf den Plattformen existiert.

Neben der Moderation der Plattformen gibt es auch auf Ebene der Accountinhaber*innen und User*innen Wege, mit vergangenheitsbezogener Hate Speech umzugehen. Grundsätzlich bietet sich die Meldung von potenziell strafrechtlich relevanten Inhalten an.



Moderator*innen von Accounts oder Gruppen können Regeln in Form von Netiquetten festlegen und durchsetzen. Und User*innen mit einschlägigem Vorwissen können im Sinne von Counter Speech entsprechende Beiträge kommentieren und einordnen. Dies kann aber zu persönlichen, konzertierten Angriffen führen, gerade gegen Frauen und/oder Angehörige marginalisierter Gruppen. 

Letzten Endes braucht es also historische und Medienbildung und zwar nicht nur für Schüler*innen, sondern auch für die 50 Millionen Erwachsenen allein in Deutschland, die soziale Medien nutzen.

 

Zum Forschungsprojekt SocialMediaHistory:

Das Forschungsprojekt „SocialMediaHistory – Geschichte auf Instagram und TikTok“ untersucht, wie Geschichte auf Instagram und TikTok dargestellt, wahrgenommen oder verfälscht wird – und auch, wer dabei außen vor bleibt und welche historischen Themen nur selten erzählt werden. Das Besondere: Das Projekt ist ein Citizen Science-Projekt, das heißt Bürger*innen und Wissenschaftler*innen arbeiten zusammen. Das Projekt wird durchgeführt von der Professur für Geschichtsdidaktik und Public History der Ruhr-Universität, dem Arbeitsbereich Public History der Universität Hamburg und Kulturpixel e.V. Es wird im Rahmen des Förderbereichs Bürgerforschung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. 

*Gemeint sind damit Bestrebungen, die dem Aufbau einer nationalen Identität dienen. Als Merkmale können u.a. eine gemeinsame Sprache, Kultur oder Geschichte herangezogen werden (Kulturnation) oder politische Strukturen wie eine gemeinsame Verfassung. Vgl. Schubert, Klaus/Klein, Martina: Das Politiklexikon. 7. Auflage, Bonn 2020, Siehe hier.

Autor*in

Andrea Lorenz

Andrea Lorenz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „SocialMediaHistory – Geschichte auf Instagram und TikTok“ und schreibt aktuell an ihrer Doktorarbeit zu vergangenheitsbezogener Hate Speech. Nach dem Studium der Geschichte, Slavistik und Public History war sie als Producerin und Redakteurin für den YouTube-Kanal MrWissen2GoGeschichte und den damals gleichnamigen Instagram-Kanal tätig.

Autor*in

Kristin Oswald

Kristin Oswald ist Projektkoordinatorin von „SocialMediaHistory – Geschichte auf Instagram und TikTok“. Seit ihrem Studium der Archäologie und Geschichte interessiert sie das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart, was die Menschen an Geschichte fasziniert und wie man die Menschen für Geschichte faszinieren kann. Beruflich ist sie deshalb vor allem in den Bereichen digitale Wissenschaftskommunikation und Citizen Science tätig.

Autor*in

Mieke Blunck

(sie/ihr) Bundesfreiwillige
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