Zukunftswerkstatt fürs Netz: Von Kritik über Utopie zum Wandel

Unser diesjähriges Community Event gegen Hass im Netz stand unter dem Motto „Beyond Internet – Zeit für mutige Visionen“. Angesichts eines polarisierten Diskurses, aufgeweichter Plattformrichtlinien und des Rückzugs vieler Stimmen aus dem Netz haben wir uns gefragt: Wie sieht ein Internet aus, das unseren Werten entspricht? Welche alternativen Plattform-Ökosysteme brauchen wir? Und welche Kompetenzen und Partnerschaften führen uns dorthin? Gemeinsam mit Engagierten aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Tech und Politik entwickelten wir Ideen für ein demokratisches und wertschätzendes Internet – denn nur wer eine Vision hat, kann sie aktiv gestalten.
Am zweiten Tag haben wir gemeinsam mit den Zukunftsforscherinnen Katrina Günther und Lilith Boettcher von Futures Probes mithilfe ihrer Methode der Zukunftswerkstatt mutige und partizipative Entwürfe für das Netz der Zukunft entwickelt.
Was ist eine Zukunftswerkstatt?
Mit der von Zukunftsforscher Robert Jungk entwickelten Methode der Zukunftswerkstatt lassen sich ko-kreativ wünschenswerte Zukünfte entwerfen und erste Umsetzungsschritte planen. Die Teilnehmenden durchlaufen drei Phasen: Zunächst werden in der Kritikphase Missstände benannt. In der Utopiephase entstehen – frei von Machbarkeitsfragen – Visionen für eine bessere Zukunft. In der Verwirklichungsphase werden daraus konkrete erste Schritte abgeleitet.
Die einzelnen Phasen der Zukunftswerkstatt: Von Kritik über Utopie hin zum Internet der Zukunft
So haben wir auch bei unserem Community Event zunächst einmal mit dem Meckern gestartet – in kleinen Gruppen haben wir uns zusammengesetzt und überlegt: Was stört uns und wo sehen wir Herausforderungen und Kritikpunkte im Internet des Jetzt? Hier konnten wir auf den Diskussionen von Tag #1 in Workshops, Fishbowl und Open Space aufbauen.
Im Saal war es lebhaft: Kritik zu finden fiel den Teilnehmenden leicht. Besonders die Ökonomisierung und Kommerzialisierung großer Plattformen standen im Fokus – eine Gruppe brachte es auf den Punkt: Profit > People. Zudem wurde auf Probleme wie mentale Gesundheit und Ausbeutung im globalen Süden hingewiesen, Themen, die auch Esther Mwema in ihrer Keynote ansprach.
Viele kritisierten außerdem die fehlende Transparenz und Regulierung von Big-Tech durch die Politik sowie den mangelnden Mitbestimmungswillen der Nutzer*innen. Der Druck aus der Zivilgesellschaft sei noch zu gering.
Weitere Kritik richtete sich gegen Desinformation und das Verschwimmen der Grenzen zwischen Analogem und Digitalem – bei gleichzeitig mangelndem Wachstum der Medienkompetenz in der Gesellschaft.
In der Utopiephase haben wir auf Basis dieser Kritik überlegt, wie ein Internet oder eine Gesellschaft aussehen könnte, in der diese Kritik nicht mehr nötig ist. Nach einer mentalen Reise, in der jede*r das Internet der Zukunft individuell vorstellte, folgte die kreative Umsetzung: Es wurde geschnitten, geklebt und gebastelt. So entstanden beim Rapid Prototyping vielfältige, bunte Artefakte der Zukunftsutopien unserer Teilnehmenden.
Auch die Autorin Jana Gebauer betont die Bedeutung, unsere Fantasie zu trainieren, denn unser „Fantasiemuskel“ sei oft „untrainiert und verkrampft” (Gebauer 2023). Nur so können wir Erfahrungen und Wissen aus der Gegenwart in die Gestaltung der Zukunft einfließen lassen.
Dieses Training hat sich ausgezahlt: Die Teilnehmenden brachten vielfältige Ideen ein – von fairem Zugang und Verteilung von Wissen über Verantwortung für antidemokratisches Verhalten auf Plattformen bis hin zu ökologisch nachhaltiger Produktion technischer Geräte. Viele wünschten sich respektvollen Umgang, Anerkennung unterschiedlicher Positionalitäten und die Stärkung marginalisierter Stimmen. Andere imaginierten vielfältige Plattformen oder individuelle Algorithmen, die wir flexibel ein- und ausschalten können, um Macht zu begrenzen und Transparenz zu schaffen.
Mit dieser Kreativität ging es in die nächste Phase. In der Verwirklichungsphase haben wir überlegt: Welche konkreten Institutionen, Orte, Objekte, Kampagnen, Verhaltensweisen oder Technologien braucht es, um unsere Ideen in die Realität umsetzen zu können?
Unsere Ergebnisse: Kreative Ideen für ein demokratisches Internet
So haben wir unsere Utopien der Zukunft eingefangen und in die Wirklichkeit und das Hier und Jetzt geholt. Und die Ergebnisse können sich sehen lassen!
Netzothek
Die Netzothek ist eine digitale Infrastruktur für Partizipation, Begegnung und Wissensaustausch – online wie offline. Als öffentliche Bibliothek der Zukunft dient sie den Menschen, ohne Abhängigkeiten zu schaffen. Analoge Bibliotheken bieten begleitende Bildungsangebote, der Zugang ist niedrigschwellig, die Nutzung intuitiv. Daten liegen sicher auf globalen Servern, weltweite Kommunikation bleibt dennoch möglich.
Politische Medienbildung für alle – von allen
Ein ganzheitlicher Ansatz schafft Bildungsangebote entlang der gesamten Lebensspanne – vom Schulfach über Familienprogramme bis zu Bildungsurlauben und generationenübergreifenden Tandems. Formelle und informelle Lernformen werden verknüpft, technische und soziale Entwicklungen mitgedacht. Eine Tauschplattform bringt Anbieter*innen und Nutzer*innen zusammen.
Realitätscheck für Reiche: Der Soliday!
Einmal im Monat arbeiten Personen mit politischer Verantwortung oder hohem Einkommen einen Tag im Niedriglohn- oder Sozialbereich – im Tausch mit regulären Beschäftigten. So begegnen sie anderen Lebensrealitäten, soziale Grenzen werden hinterfragt, Politik wird menschlicher. Der Soliday fördert sichtbares, schichtübergreifendes Engagement. #FriedrichMerzAlsPfleger
PASS(T)
Fit for Reality
Unreflektierte Entscheidungen spalten – Fit for Reality fördert Reflexionsfähigkeit und wertfreies Miteinander. Ziel ist es, Menschen zu befähigen, ihr Denken und Handeln kritisch zu hinterfragen – für einen inklusiveren gesellschaftlichen Diskurs.
Bürokratiearme, Niedrigschwellige und Transparente Regulierung
Für Unternehmen, Nutzer*innen und Forschung gelten niedrigschwellige Transparenzregeln als Voraussetzung für den Marktzugang. Der Staat unterstützt kleine Firmen etwa bei der Einführung von Open-Source-Lösungen. Meldungen von „Trusted Flaggern“ lösen automatisch Prüfmechanismen aus.
Begegnung als Schlüssel
Vielfältige, erlebbare Begegnungen – ob digital oder analog – fördern emotionale Reife, Vertrauen und Teilhabe. Sie stärken eine demokratische Digitalgesellschaft, eröffnen Gestaltungsspielräume und wirken Machtkonzentration sowie antidemokratischen Tendenzen entgegen. Formate wie „Mitkochen im Pflegeheim“, „Bürger*innenräte“ oder „Blog auf dem Dixi-Klo“ zeigen das Potenzial solcher Erfahrungen.
Global Institute for the Internet
Eine demokratisch gewählte, globale Institution für ein friedliches, inklusives und solidarisches Internet. Sie schafft einen optionalen digitalen Raum auf Basis eines weltweit gültigen Digitalen Rechts. Online- und Offline-Welten kontrollieren sich wechselseitig. Mit dem „Internet-Seepferdchen“ wird digitale Bildung niedrigschwellig verankert.
Und wie geht’s jetzt weiter?
Wir freuen uns über das große Interesse und die Energie, mit der wir gemeinsam Ideen für ein demokratisches, wertschätzendes Internet entwickelt haben – und über die beeindruckenden Ergebnisse! Statt bei Kritik zu bleiben, haben wir neue Wege beschritten.
Deshalb: Macht weiter!
Seid mutig, kreativ und startet Projekte gegen Hass im Netz – Demokratie und Internet brauchen euch!
Das NETTZ unterstützt euch
Ob Vernetzung, Fördertipps oder konkrete Fragen: Meldet euch bei uns! Die Zukunftswerkstatt und daraus entstandenen Ideen haben gezeigt, dass wir gemeinsam nach vorne blicken und noch mehr bewegen können. Wir sind immer auf der Suche nach Förderern, die Formate wie die Zukunftswerkstatt, unser Förderprogramm oder unsere Hack Days unterstützen.
Ihr wart nicht beim Event dabei, seid aber neugierig geworden oder kennt passende Projekte? Auch dann: Kommt auf uns zu – wir freuen uns auf den Austausch!
Quellen:
Gebauer, Jana (2023): Imagining Otherwise–Fantastische Perspektiven auf Arbeit in der Transformation. In Transformation und Emanzipation: Perspektiven für Arbeit und Demokratie. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, 11-22.
Förderhinweis
Das Community Event ist eine Veranstaltung von Das NETTZ als Teil von toneshift – Netzwerk gegen Hass im Netz und Desinformation und wird gefördert im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie der Deutschen Postcode Lotterie.
Für inhaltliche Aussagen und Meinungsäußerungen tragen die Publizierenden dieser Veröffentlichung die Verantwortung.

Joy Hwang
(sie/ihr) Werkstudentin